Von der Schattenseite.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Coblenzer Zeitung” vom 16.10.1901,
in: „Prager Tagblatt” vom 20.10.1901,
in: „Stralsundische Zeitung” vom 20.10.1901,
in: „Leipziger Tageblatt” vom 21.10.1901,
in: „Scranton Wochenblatt” vom 28.11.1901,
in: „Der deutsche Correspondent” vom 22.12.1901


„Da wird nichts 'von! Aus ist's! Will nichts mehr hören! Punktum.”

„Aber Leonhard!”

„Papaaaaaa —”

Baron von Raßnow trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Barttasse, strich dann mit der hohlen Hand über den mächtigen Schnauzer und äffte seinem Töchterchen nach.

„Päppä — Päppä —! Nun ja, Päppä! Glaubt Ihr denn, daß ich die Kraggen blos zu Eurem Spaßvergnügen im Stalle habe!? He? Alles, was Beine hat auf dem Hofe ist draußen bei der Lese; der halbe Schloßberg ist noch einzubringen — und von der Eremitage ist überhaupt noch keine Traube im Kelter! Und da wollen die Herrschaften nach der Stadt fahren! Auf den Bazar! An der Wohltätigkeit hat der liebe Herrgott noch keine Freude — da könnt Ihr Gift drauf nehmen. Das ist 'ne bloße Dickthuerei, weiter nichts!”

Während die hübsche kleine Baroneß das suffisante Stupsnäschen tief über ihr Theeglass neigte und mit dem silbernen Löffel verzweifelt in dem Getränk rührte, hatte sich Frau Eveline von Raßnow steif aufgerichtet.

„Lieber Leonhard, ich muß doch bitten, daß Du die gesellschaftlichen Grundsätze, in denen ich Florance standesgemäß erziehe, etwas mehr respektirst!”

„Erzieh' Du die Floranze nur so, wie — —”

Baronesse von Raßnow ließ mnit heftigem Klirren das Löffelchen fallen und ihre Mutter verzog das distinguirte Gesicht zu einer Grimasse.

„Ist es Dir denn nicht möglich, den Namen Deiner Tochter richtig auszusprechen!” rief sie entrüstet. „Wie oft soll ich Dir sagen — Florance, heißt es — — Florance!”

„Thut mir leid. Ich kann nicht durch die Nase sprechen — habe den Stockschnupfen. Außerdem habe ich dem Mädel den verrückten Namen nicht gegeben. Für mich heißt sie Floranze. Punktum. Im Uebrigen halte ich es nicht für nothwendig, daß das Mädel überall hingeschleift wird, wo 'was los ist!”

„Sooo —” entgegnete die Baronin mit ironischer Freundlichkeit, indem sie jedes Wort mit einer wiegenden Kopfbewegung pointirte, „das Kind soll wohl sitzen bleiben und einsauern, wie Deine älteste Tochter, nicht wahr?”

„Jawooohl —” erwiderte der alte Herr in demselben Ton und nun merklich gereizt. „Das ist mir schon lieber, als wenn sie wie Sauerbier ausgeboten wird! Außerdem ist das Mariandl noch lange keine alte Jumpfer, verstehst Du? Noch lange nicht! Mit dreißig Jahren kriegt sie immer noch einen Mann — und einen anderen, als die Triddelfitze, welche in der Stadt um die Floranze alleweil herumhüpfen! Jedenfalls wird aus dem Bazar nichts. Punktum. Ich brauche die Pferde zur Weinlese. Und wenn Ihr 'was für die Armen thun wollt, dann macht's wie das Mariandl. Die maust mir jeden Sonnabend fünf Mark und bringt sie zum Pastor unten im Dorf. Da hat der liebe Herrgott seine Freude dran.”

„Natürlich — was Deine älteste Tochter thut, das — —”

Die Baronin unterbrach sich. Marianne von Raßnow war eingetreten und brachte ihrem Vater die Morgenpost. Eine schlanke Figur von wundervollem Ebenmaß. Die braunen Augen, welche sonst müde und resignirt blickten, hatten heute einen lebhafteren Ausdruck und auf den herben, verschlossenen Zügen lag ein rosiger Hauch. Frau von Raßnow sah ihre Stieftochter überrascht an. Sie mußte sich gestehen, daß das Mädchen ordentlich hübsch war in diesem Moment. Aber gereizt, wie sie war, erwiderte sie den Gruß der Stieftochter nur mit einem kurzen Kopfnicken, und sie ärgerte sich fast, als Florance der Schwester entgegensprang und sich hülfeheischend an sie hing.

Das Mariandl — ein Diminutiv, welches zu dieser königlichen Gestalt recht wenig paßte — legte freundlich einen Arm um die Kleine; aber ehe sie deren Klagen anhörte, sagte sie mit etwas gesuchter Beiläufigkeit:

„Ich glaube, es ist auch ein Brief da, Vater — — von Herrn von Stoddart, wenn ich nicht irre —”

„Was Teufel — von Bob?! Aus China?” rief der alte Herr lebhaft, indem er die Zeitung, nach der er zuerst gegriffen, bei Seite warf und unter den Briefen suchte.

„Er liegt gleich obenauf,” orientirte Marianne erröthend; dann wandte sie sich der Schwester zu und versprach ihr mit fast mütterlicher Zärtlichkeit, sich für die Fahrt nach der Stadt verwenden zu wollen. Dabei ließ sie kein Auge von ihrem Vater, in dessen bärbeißigen Zügen es jovial aufleuchtete.

„Kinder!” rief der Baron. „Der Junge ist ja schon in Deutschland! Nee — sowas! Und gleich ist er hier; ist es die Menschenmöglichkeit! Und immer noch derselbe Racker! Hört mal blos, was der infame Bengel schreibt; — — also wo war's doch — ja hier — — —, bin glücklich wieder da, lieber Knurronkel, und da mir die Aerzte eine Citronenkur verordnet haben, so dachte ich mir, der Wein auf Schloß Raßnow thut's auch! Also erwartet mich gleichzeitig mit diesem Briefe oder auch noch ein bißchen früher; es kommt ganz darauf an, ob Euer lahmer Postschwede fixer ist oder ich mit meinem Zipperlein — — —”

„Das ist der Bob, wie er leibt und lebt!” rief der alte Herr, indem er den Zwicker von der Nase nahm und sich vergnügt auf die Schenkel klatschte; dann stand er lebhaft auf. „Mariandl, sag' dem Heinrich, daß er sofort anspannt und nach der Bahn fährt. Der Junge ist im Stande und macht die zwei Stunden Wegs trotz seiner maroden Knochen zu Fuß!”

Als Marianne das Zimmer verlassen, konnte die Baronin die Bemerkung nicht unterdrücken:

„Es ist merkwürdig, Leonhard, daß Du nun doch Fuhrwerk zur Verfügung hast —”

Aber da kam sie schön an. Fast wüthend unterbrach der Alte seine Zimmerpromenade und rief bissig:

„Erstensmal hast Du kein Zipperlein und die Floranze auch nicht! Zweitens kommst Du nicht aus China und hast Dich nicht mit den Boxern herumgehauen, sondern bist zu Hause und chikanirst Deinen Mann, und drittens — —”

„Und drittens ist hier wieder Krach!” ergänzte eine sonore Stimme vom Fenster her. Ehe die in der Stube sich noch von ihrer Ueberraschung erholt hatten, tauchte ein fideles, blondbärtiges Gesicht an dem von Weinlaub dicht umrankten offenen Fenster auf. Noch ein Griff in das starke Spalier — und Kapitänleutnant Robert von Stoddart saß auf dem Fensterbrett.

„Junge!” rief der Baron und eilte mit offenen Armen auf seinen Neffen zu.

„Ich mache Kotau, meine Herrschaften,” erwiderte Bob von Stoddart, indem er ins Zimmer sprang, die Uniformmütze abnahm und sich tief verbeugte. Dann schloß er lachend den Onkel in die Arme und küßte der Tante die Hand. Nur vor Florance stutzte er einen Augenblick, die ihn mit ungenirter Backfischneugier betrachtete.

„Sag mal, Knurronkel, das ist doch nicht — —”

„Das ist das Wurm, mit dem Du Fangball gespielt hast, als es zwei Jahre alt war!” lachte der alte Herr.

„Da hast Du Dich aber hübsch rausgemacht, Kousinchen!” bemerkte der Offizier bewundernd und drückte der Kleinen derart herzlich die Hand, daß Florance von Raßnow unwillkürlich eine Schulter hochzog und die Zähnchen in die Unterlippe grub.

Nach einer kurzen Unterhaltung, in der die Baronin sich etwas steifleinen gab und Florance mit süßsaurem Gesicht ihre malträtirten Fingerchen zurechtdrückte, zogen die Herren sich zunächst in das Zimmer des Barons zurück. In der Thür rief der glückselig aufgekratzte alte Herr den Damen zu:

„Heinrich soll sofort die Sachen von der Bahn abholen! Und dann schickt uns eine Flasche hinein. Ihr wißt schon — meine Sorte; von der Schattenseite!”

„Von der Schattenseite —?” fragte der junge Offizier, indem er in drolliger Weise die Nase kraus zog und seinen Oheim mißtrauisch von der Seite musterte.

„Jawohl, mein Junge!” sagte der Baron zwischen Ernst und Lachen. „Von der Schattenseite! Jeder Weinbauer hat da einen Tropfen, den er mit besonderer Liebe pflegt — es ist der für's Haus. Und der Kenner weiß ihn zu schätzen. Wohl ist er herber wie das Gewächs, das unter der Sonne steht, und er besticht nicht auf den ersten Anhieb. Im Gegentheil. Aber wer ihn kennt, der weiß seinen inneren Reichthum zu schätzen und nimmt nicht mehr das kokett hergerichtete blumige Zeug, das da in alle Welt geht.”

*           *           *

Ein schnelldunkelnder Herbstabend. Während der kurzen Dämmerung waren die letzten Wagen von den umliegenden Rebenhügeln heimgekommen und entluden ihre schwere Last in die Kelterräume.

Marianne von Raßnow ließ es sich sonst nicht nehmen, bei der Einfahrt zugegen zu sein, mit den Leuten zu plaudern und in Vertretung ihres Vaters Anweisungen zu geben. Seit länger als einer Stunde saß sie regungslos in dem lauschigen Winkel, der von dem letzten uralten Rest der Schloßmauer am Ende des Parks, nach der Dorfstarße zu, gebildet wurde.

Sie mochte den Hebst nicht — den Herbst, der doch so wunderbar schön ist im Rheinlande, am Neckar, an der Nahe und Mosel. Wenn das Laub sich röthete, ging es wie ein Frösteln durch ihre Seele. Und im rieselnden Blätterfall schwand auch das stille Hoffen, welches trotz aller Resignation in jedem Lenz sie neu erfüllte.

Immer und immer wieder — — — seit damals.

Just an dieser Stelle war es gewesen. Hier hatte der blutjunge Seekadett sich von ihr verabschiedet — als er seine erste größere Reise antreten sollte. Hier hatte er sie geküßt — wild und ungestüm, aber sicher nicht nur aus dem Uebermuth heraus, der ihn ja auch heute noch nicht verlassen. Sie hatte aufgeschrieen wie unter einem physischen Schmerz und nach ihm geschlagen — und die Hand hatte ihn getroffe, mitten in das frische, lachende, lebensfrohe Gesicht. Er wurde bleich wie der Tod, und die schlanke Gestalt in der schmucken Uniform erbebte. Dann wandte er sich ab und ging — und sie hatte ihn nicht wiedergesehen — bis heute.

Er hatte oft und aus aller Herren Länder geschrieben, aber ihrer hatte er niemals auch nur mit einem Worte Erwähnung gethan. Daß sie gestorben war für ihn, ergab sich aus der respektvoll reservierten Art, mit der er sie bis heute begrüßt — und aus Allem, Allem!

Er war mit der Stiefmutter und der Schwester in die Stadt gefahren. —

Baronesse von Raßnow lehnte den Kopf, welchen schwere dunkle Flechten fast überlasteten, auf den harten Tisch, und ihr Leib erbebte in thränenlosem Schluchzen. Sie richtete sich auch nicht auf, als sie die enrhümirte Stimme ihres Vaters neben sich hörte.

„Mariandl — — ” sagte er nur; aber in diesem einen Worte des rauhen alten Herrn lag das tiefste mitleidsvolle Verständniß für das Herzweh seines Kindes.

„Heul' nicht, Mariandl,” bat er, indem er sich zu ihr auf die Bank setzte und seine Hand auf ihr Haupt legte. „Es ist ja 'ne große Gemeinheit von dem Bob, daß er da gleich am ersten Tage mit loszieht —”

„Vater —!”

„Nee, laß man — es ist doch 'ne Gemeinheit; und wenn ihn die Floranze auch gequält hat! Er durfte nicht die Windbeutelei mitmachen — der nicht. Das thut mir weh von dem Bengel! Und wenn er kommt, dann werde ich ihm das auch sagen. Wenn er blos nicht immer solche schelmischen, durchtriebenen Augen machen möchte — ich glaub' fast, ich kann dem Jungen nicht grob werden — — —”

„Ist auch nicht nöthig, Knurronkel!” rief Bob con Stoddart vom Parkeingange her in den dunkeln Winkel hinein. „Den Schweinhund, den Du mir blasen willst, blas ich mir selber — und deshalb bin ich wiedergekommen. Die Damen amüsiren sich wunderschön, mir war die Kiste ein bischen langweilig; schließlich genügt es ja auch, wenn ich die Herrschaften in ein paar Stunden wieder abhole.”

„Bob, Du verdrehter Bengel!” schrie der alte Herr fast jauchzend. „Du bist die zwei Meilen wieder zu Fuß gelaufen!?

„Allemal, Knurronkel,” lachte der Offizier, indem er näher trat und das Dunkel der Laube mit den Augen zu durchdringen suchte. „Wegen meines Dreimasters waren die Dörfler hinter mir her, als wenn ich einer Menagerie entsprungen wäre. Mit wem sprachst Du übrigens? Wer ist denn noch da?”

„Wer soll's denn sein — das Mariandl ist's.”

„Guten Abend, Baroneß.”

„Das heißt, nun will ich Dir mal was sagen mein Sohn,” fauchte der alte Herr, „wenn das Gehabe nicht bald ein Ende hat, dann regnet es Dir doch noch in die Bude, verstehst Du!?”

„Wie soll ich denn sagen —” fragte er mit einem eigenen Klang in der Stimme.

”Wie? Sagst Du denn zu der Floranze auch Baroneß, he? Und ich meine, Ihr kennt Euch doch länger!”

„Eben deshalb.”

„Was heißt das! Willst Du jetzt endlich reden, Schlingel?” rief der alte Herr, indem er den Neffen bei den blinkenden Epaulettes faste und ihn schüttelte. „Weshalb bist Du so spinöse zum Mariandl?”

„Weil ich mich nicht anders traue, Knurronkel,” raunte Herr von Stoddart geheimnißvoll, aber doch laut genug, daß Marianne von Raßnow ihn hören mußte; „sie haut nämlich —”

„Bob!” schrie es gequält und doch mit einem Beiklang von Jubel aus der Laube — — — und ein paar Sekunden später kam der alte Herr sich überflüssig vor in dem lauschigen Winkel, der von dem letzten uralten Reste der Schloßmauer am Ende des Parkes gebildet wird.

*           *           *

Ungefähr eine Stunde später pürschte er sich aber doch wieder heran. Unter jedem Arm hielt er eine Flasche und in den Händen drei große Römer.

„Du, Bob —”

„Ja, Herzensonkel?”

„Nanu, auf einmal? Warum denn nicht Knurronkel?”

„Weil Du nicht knurrst.”

„Hm; — magst trinken?”

„Ja, gieb! Auf unser Glück!”

„Hier hab ich zwei Sorten, Bob. So einen glatten süßen, abgeschmeckten — und dann den herberen, weißt Du, den — —”

Den gieb, Onkel! Den von der Schattenseite! Er ist herb — aber wer ihn kennt, weiß seinen inneren Reichthum zu schätzen und nimmt nicht das hergerichtete blumige Zeug, das da in alle Welt geht —”

— — —